Freitag, 13. November 2015

Textilie Objekte als Art Brut - Judith Scott


von Grietje van der Veen

Lasst uns noch ein bisschen die Wiederverwertung von Textilien weiterspinnen. Als ich kürzlich meinen  Kurs „Textile Spielereien …“ in Luzern gab, machte mich eine der Lehrpersonen darauf aufmerksam, dass es für ihre kleinen SchülerInnen schwierig wäre, mit dünnen Nähnadeln zu hantieren. Das Weben mit Stoffstreifen ginge zwar, aber das Gewebte zu sichern, sei es mit der Nähmaschine oder mit Handnähnadeln, damit wären sie überfordert. Ja, was denn machen mit der nächsten Aufgabe: das Umwickeln von Stoffstreifen und aus denen ein Gefäss zusammensetzen? Wie kann man kleine Kinder für das Gestalten mit Stoffstreifen erwärmen? Keine Nadeln, keine Maschine – nur die Hände. Also machten wir einen kleinen Exkurs Richtung Knoten. Plötzlich waren alle begeistert und die Ideen sprudelten nur so. Es war eine Bereicherung für alle. Auch mich hatte es gepackt und als ich heimkam, ging ich ans Surfen im Netz. Was machen denn andere so?

So bin ich auf die Geschichte von Judith Scott gestossen, die mich unendlich berührt hat. Vielleicht kennen Sie die Geschichte. Für mich war sie jedenfalls vollkommen neu: Judith Scott wurde 1943 als Teil eines Zwillings in Cincinnati, USA, geboren. Während ihre Schwester völlig gesund war, hatte Judith nicht nur das Down Syndrom, sondern war auch noch taub, was man kurioserweise erst nach 30 Jahren entdeckte. Sie galt einfach als schwer geistig behindert. Beide Mädchen liebten sich innig und waren immer zusammen.

Mit sieben Jahren wurde die Schwester Joyce eingeschult und die kleine Judith blieb alleine zurück. Kurz darauf wurde sie in ein staatliches Heim untergebracht, wo sie über 30 Jahre blieb. Ohne Förderung, ohne Forderung unter katastrophalen Umständen. Dann holte ihre Schwester sie da raus, nahm sie zu sich und übernahm die Vormundschaft.
 
Die Schwestern Joyce und Judith Scott
Joyce brachte Judith ins Creative Growth Center in Oakland, Kalifornien, eine Institution für Künstler mit einem Handicap. Hier spielte sie zuerst ziemlich lustlos mit Farben, bis sie in Berührung mit Textil kam. Von da an gings rund. Alles, was ihr unter die Finger kam, wird eingewickelt, eingewoben und geknotet mit sorgfältig ausgesuchten Stoffen, Garnen. Ein Video zeigt, wie sie morgens ins Atelier kommt, ihre Tasche auf den Tisch stellt und dann in den Schränken rumwühlt, bis sie etwas findet, was sie interessiert. Dies sind meistens stabile Gegenstände wie Äste, Schläuche, Kisten, Hölzer, etc., die als Gerüst für die kommenden Skulpturen dienen. Dann beginnt die Arbeit. Schicht um Schicht entsteht, bis man oft das Eingewickelte, -geknotete und -gewebte nicht mehr sieht. Niemand weiss, wann sie fertig ist. Sie hört irgendwann einfach auf, klatscht in die Hände, macht eine Bewegung «Wegdamit» und die Sache ist für sie erledigt. Zeit sich etwas Neuem zuzuwenden. Ihre Skulpturen gelten als Art Brut, also als Kunst von Menschen mit einer geistigen Behinderung.






  



Da Judith Scott nicht sprechen konnte, bleiben ihre Skulpturen ohne Erklärung. Die Betrachter müssen für sich herausfinden, was sie gemeint haben könnte. Wollte sie damit ihre Isolation während ihrer Zeit im Heim ausdrucken? War es auch nur die Freude am Gestalten? Erzählt sie Geschichten? Es wird für immer ein Geheimnis bleiben.


Die Künstlerin starb 62-jährig im Jahr 2005. Einige ihrer Skulpturen sind im Besitz des Lausanner Museum «Art Brut». Die dort arbeitende Kunsthistorikerin Lucienne Peiry, hat eine wissenschaftliche Studie über Judith Scott geschrieben, die Sie hier http://judithandjoycescott.com/ auf Englisch lesen können.

Wenn Sie noch mehr wissen möchten, verweise ich auf diese Internetseiten, von denen ich meine Informationen habe und auch die Fotos genommen habe.

http://www.nytimes.com/2015/06/01/t-magazine/outsider-art-essay-christine-smallwood.html

http://creativegrowth.org/artists/judith-scott/

http://creativegrowth.org/press/judith-scott-bound-and-unbound-featured-in-the-new-york-times-review-by-holland-cotter/


Hier noch einige höchst interessante Videos:

http://www.debajodelsombrero.org/nuevaweb/ingles/videos_Sombrero.html

https://www.youtube.com/watch?v=DA4I6Q0x60s

https://www.youtube.com/watch?v=46LdVzWoNhI

 

5 Kommentare:

  1. Danke für den Blogbeitrag. Die Arbeiten von Judith Scott faszinieren mich schon lange. Ich finde ihre Objekte total kraftvoll, eindrücklich, eigen.
    Diese Aussage hier "Da Judith Scott nicht sprechen konnte, bleiben ihre Skulpturen ohne Erklärung. Die Betrachter müssen für sich herausfinden, was sie gemeint haben könnte. Wollte sie damit ihre Isolation während ihrer Zeit im Heim ausdrucken? War es auch nur die Freude am Gestalten? Erzählt sie Geschichten? Es wird für immer ein Geheimnis bleiben." erinnert mich an diesen Text hier:
    was bedeutet dieses stück
    wurde beethoven gefragt
    als er einem freund eine neue sonate
    vorgespielt hatte
    da soll er zum klavier zurückgegangen sein
    und die ganze sonate noch einmal gespielt haben

    das bedeutet es sagte er

    (sölle)

    Schöpfen, sich ausdrücken auf seine ureigenste Weise ohne Erklären zu müssen (vielleicht auch zu können), seine Sprache finden mit Stoff, Draht, Farbe.... - ein Prozess und eine Ausdrucksform, die von mir aus gesehen auch einfach so stehen gelassen werden kann. Worte und Erklärungen können auch die Kraft und Aussage der Objekte zerstreuen...

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    1. Der Beitrag ist wirklich wunderbar, liebe Grietje. Was für eine Ausdruckskraft, welche ursprüngliche Schaffensfreude.

      Zurück zum Ursprung, seit Jahren mein Thema, der Wunsch, innere Bilder zu erspüren und umzusetzen. Wie will man das immer erklären? Es ist ein lebenslanger Prozess, der nicht zu beschreiben ist, außer man will sein Leben und die eigenen Befindlichkeiten beschreiben.

      Auch jetzt die Schwierigkeit, dafür Worte zu finden.

      liebe Grüße Gabi

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  2. Liebe Rahel, liebe Gabi,
    Die Betrachtung und Rezeption eines Kunstwerks ist in sich ein künstlerischer Akt. Der Betrachter erfindet das Kunstwerk neu, indem er es für sich interpretiert. Vielleicht versteht er die Intention des Künstlers nicht. Aber ist das wichtig? Hauptsache, er findet darin eine Bedeutung für sich selbst.
    In der Literaturwissenschaft kennt man verschiedene Ansätze der Literaturkritik: die sozialistische, kommunistische, feministische, etc. Ich erinnere mich, dass ich eine Semesterarbeit über die Romane von Hemingway aus feministischer Sicht geschrieben habe. Diese Sicht einzunehmen war zwar nicht die Aufgabe, ich konnte aber irgendwie nicht anders. Der Professor – ein alter Herr jenseits des Pensionsalters – war nicht begeistert. Sein Ansatz war eine ganz andere als die meine. Und beide hatten recht. Wichtig ist doch, dass man sich mit dem Werk auseinandersetzt. Das zeigt auch die Geschichte mit Beethoven.

    Deshalb habe ich auch Mühe mit dem ewigen Wunsch bei den Textilkunstwettbewerben, bei denen man ein Statement über das eingereichte Werk abgeben soll. Am liebsten in wenigen Worten … Abgesehen vom oben Erwähnten: Wie kann man in so wenigen Worten darlegen, was einen wochenlang bei der Arbeit berührt hat? Und was geht das dem Betrachter an?

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  3. Merci pour cet article, j'ai eu de la chance de voir ses œuvres à Lausanne ainsi qu'un film où elle créait ses œuvres et ce qui m'a étonné c'est qu'à un moment pour elle c'était fini et elle passait à une autre pièce, étonnant

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  4. Ich danke Dir für diesen tiefsinnigen Artikel.
    Judith Scott konnte vielleicht in den kreativen Phasen und Arbeiten in eine andere, gute und für sie sichere Welt abtauchen. Es waren vielleicht auch die glücklichsten Momente für sie ohne, dass sie sich mit dem Begriff Kunst auseinander zu setzen hatte und einfach spontan nach ihrer Eingebung gewirkt hat.
    Maja
    Eigentlich kann man daraus lernen ...

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