Freitag, 19. September 2014

Ein kniffliger Umzug

von Cécile Trentini

Letzte Woche wurde ich auf einen interessanten Artikel in der online Ausgabe der New York Times aufmerksam gemacht, den ich hier gerne übersetzt und leicht gekürzt widergebe:

Picasso’s “Le Tricorne” wurde vom Seagram Gebäude, wo es die letzten 55 Jahre ausgestellt war, entfernt. Ein Gewebe dieser Grösse und Alters zu bewegen, ist ein ziemlich heikles Unterfangen.

Mitten in der Nacht kam ein 95 Jahre alter Picasso unters Messer.

“Wenn irgendetwas schief läuft, dann hört sofort auf, mit dem was ihr gerade tut" befahl der technische Leiter Tom Zoufaly, “Ich will kein Geschrei oder Gebrüll hören” .
Schauplatz ist das Four Seasons Restaurant auf Park Avenue, seit 1959 die Heimat von “Le Tricorne” ein beinahe 6 x 6 Meter grosser, von Pablo Picasso bemalter Bühnenvorhang. Der Vorhang war Gegenstand eines Konflikts zwischen der New Yorks "Landmarks Conservancy" (eine non-profit Organisation, die sich für New Yorks Wahrzeichen einsetzt), in dessen Besitz sich das Werk befindet und Aby J. Rosen, dem Besitzer des berühmten Seagram Building, wo es hing. Mr. Rosen wollte das Werk entfernt haben.
Als die Samstags-Nachtschwärmer der Stadt in ihre Betten krochen, versammelte sich eine Armee von flinken Leuten, um das brüchige Gewebe zu entfernen, welches von den einen als New Yorks eigener Picasso in Ehre gehalten, von den anderen als zweitrangiges Werk belächelt wird. Ein falscher Ruck konnte sein Ende bedeuten.
Um dem entgegenzuwirken, wurde ein Stahlturm in der als Picasso Allee bekannten Diele aufgebaut. Arbeiter wuselten auf den 10 Etagen des Gerüsts herum, um dabei behilflich zu sein, eine 7 Meter lange Röhre zu bedienen, auf der der Vorhang aufgerollt und dann zur Reinigung abtransportiert werden sollte. Danach würde es ein neues Zuhause in der New-York Historical Society finden.
Arbeiter bauen ein Gerüst vor Picassos “Le Tricorne” auf,
bevor der Vorhang am frühen Sonntag Morgen
aus dem Four Seasons Restaurant entfernt wurde.
Credit Michael Nagle for The New York Times
Aber das Schreckgespenst des Ungewissen geisterte über dem Unterfangen. Was, wenn sich nach 55 Jahre in der Vertikale, der Vorhang nicht aufrollen liess? Die Arbeiter konnten nur raten, welche merkwürdige und antike Methode verwendet wurde, um das Gewebe zuoberst auf der Wand zu fixieren.
Mr. Zoufaly erforschte seine Vergangenheit auf der Suche nach einer Antwort. Er erlernte das Handwerk der Kunst-Hängung von James Lebron, dem Mann der seinerzeit "Le Tricorne" hier installiert hatte. "Er sitzt auf meiner Schulter und flüstert mir ins Ohr 'überlege dir, wie ich vorgegangen wäre' " sagte Mr. Zoufaly.
Das rheumatische Ächzen eines Ketten-Flaschenzugs hallte von den Sandstein Wänden. Zehn behandschuhte Hände wickelten den unteren Rand des Vorhangs um eine 60 Zentimeter breite Rolle, die sich regelmässig drehte und aufstieg, während sie das Gewebe von der Wand ablöste. Eine Schutzhülle hing über dem Gemälde wie ein Operationsvorhang. Mr Zoufaly machte die erste beunruhigende Entdeckung: jemand hatte einen Tacker benutzt, um die Ränder des Vorhangs auf Klettbänder zu befestigen. Die Bergungsarbeiten dauerten bereits 7 Stunden.
Inmitten von aufgewirbeltem Staub stieg Mr. Zoufaly auf eine Leiter und versuchte herauszufinden, wie sein ehemaliger Lehrer vorgegangen war. Die Diagnose: Der Vorhang war mit hunderten von Klammern an zwei Holzlatten getackert, die mit Hilfe von 19 rostfreien Stahlschrauben zusammengefügt waren.Kurz darauf wurden Holzkeile unter diese parallele Verankerungen getrieben und der Vorhang war von der Wand gelöst! Er erlitt keinen einzigen Riss und verliess das Four Seasons ohne je den Boden berührt zu haben.
Arbeiter räumen auf, nachdem der Vorhang entfernt wurde.
Er hing seit 1959 im Seagarm.
Credit Michael Nagle for The New York Times
Arbeiter transportieren den aufgerollten Vorhang zu einem Umzugswagen. Nach der Reinigung wird er in der New-York Historical Society ausgestellt werden. 
Arbeiter räumen auf, nachdem der Vorhang entfernt wurde.
Er hing seit 1959 im Seagarm.
Credit Michael Nagle for The New York Times

Quelle: Artikel von Benjamin Mueller in der Online Ausgabe der New York Times vom 7. September 2014

Hier geht es zum Original-Artikel
Hier geht es zum einemVideo, in dem der Umzug dokumentiert wird.

Besonders interessant fand ich den Artikel auch in Bezug auf die Diskussionen, die dem Umzug dieses Werkes vorangegangen waren. Fragen, die sich ja immer wieder stellen: was ist erhaltenswert, was gehört zum kulturellen Erbe, was darf verändert werden? Wie, wo und wann ist es gerechtfertigt, Platz für Neues zu schaffen?
Spontan kommen mir in diesem Zusammenhang zwei Entdeckungen in den Sinn, die ich bei einer Führung in Zürich diesen Frühling kennenlernte: Einerseits die Blumenhalle von Augusto Giacometti (ein entfernter Verwandte des berühmteren Alberto).

Ein kaum bekanntes Juwel
zu sehen in der Regionalwache City der Stadtpolizei Zürich
Bildquelle
Sollte je der Vorschlag gemacht werden, diese Fresken zu übermalen und durch ein zeitgenössisches Werk zu ersetzen, wäre ich unter den Ersten, die eine Petition unterzeichnen würde, damit dies verhindert wird.

Andererseits sind da die Fenster von Sigmar Polke im Fraumünster:

Bildquelle


Bildquelle
eine faszinierende Umsetzung in einer traditionsreichen Umgebung. Fantastisch, das dies möglich war; dazu mussten aber die alten Fenster weichen…

Weitere Beispiele liessen sich unzählige finden. Die Frage "Erhalten oder Platz für Neues schaffen" lässt sich sicher nicht grundsätzlich beantworten und muss von Fall zu Fall neu bewerten werden. Die Antwort wird selten eindeutig sein und häufig wird es wohl, wie im Fall des "Tricorne" von Picasso, unterschiedliche Meinungen geben, die von allen Parteien mit der gleichen Überzeugung vorgetragen werden.

Ich bin aber auf jeden Fall bin gespannt, welches Kunstwerk in Zukunft diese riesige Wand im Four Seasons schmücken wird. Ein guter Vorwand (wenn ich denn einen bräuchte) wieder mal nach New York zu reisen und selbst nachzuschauen...


1 Kommentar:

  1. Welch ein interessanter Artikel.Wie schön, dass dieses Kunstwerk unbeschädigt abgenommen werden konnte und auch schon ein neuer Platz gefunden wurde. Wie sieht es denn da mit euch Künstlerinnen selbst aus? Könnt ihr gut Neues gegen Altes auswechseln? Mir fällt es oft schwer Platz für Neues zu schaffen, das Liebgewonnene zur Seite zu legen. Ist nicht immer einfach. Liebe Grüße Anette

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