Freitag, 27. Juni 2014

Kunst oder Humbug?

von Cécile Trentini




Seit Mitte April steht in Zürich ein Objekt, das schon im Vorfeld die Gemüter erhitzte und nun umso mehr polarisiert.

Worum geht es?

Am Limmatquai neben dem Rathaus befand sich einst eine Fleischhalle. Seit das Gebäude 1963 abgerissen wurde, wird über die weitere Verwendung des Grundstücks gestritten. Darum liess der Stadtrat 2008 unter der Ägide der Arbeitsgruppe Kunst im öffentlichen Raum einen internationalen Wettbewerb durchführen. 

"zürich transit maritim, das Siegerprojekt, besteht aus einer zeitlich gestaffelten, mehrstufigen Inszenierung, die von der verantwortlichen Künstlergruppe - Jan Morgenthaler, Barbara Roth, Martin Senn und Fabia Sephernia - als "Archäologie der Zukunft" bezeichnet wird. Basis ihres Vorhabens ist die Idee, Zürich als historische Hafenstadt und den Limmatquai als Hafenanlage vorzustellen. Um diese fiktive Vergangenheit haben die Künstler eine Erzählung entwickelt, die mit einem Schiffshorn, mit Schiffspollern,  Schautafeln und dem seit April 2014 installierten Hafenkran als bühnische Elemente operiert."
(Text der Info-Tafel)

Und deshalb steht seit Mitte April in Zürich ein Hochseehafenkran!


der im Einklang mit der fiktiven Geschichte und im Sinne der "Archäologie der Zukunft" nicht "aufgebaut", sondern "freigelegt" wurde.

Infotafel am Standort des Krans

Es handelt sich um einen ausgemusterten Portal-Hafendrehkrahn namens "Delfin" (Jahrgang 1963), der von Zürichs Schwesterstadt Rostock aus die Reise an das Ufer der Limmat unternommen hat.

Man kann sich vorstellen, dass ein solches Vorhaben ein kostspieliges Unterfangen ist. In Zeiten der Budget Kürzungen war es also nicht verwunderlich, dass die Absicht für teures Geld mit einem "Rosthaufen" das schöne Panorama zu "verschandeln" bei einigen Zürchern auf grossen Widerstand stiess.


Im Herbst 2012 lancierten bürgerliche Kreise gar eine Volksinitiative «Hafenkräne Nein», mit der sie in Zürich ein allgemeines Verbot zum Aufstellen von Hafenkränen zu Kunstzwecken erreichen wollten. Die Stadt liess sich Zeit mit dem Ausarbeiten eines Gegenvorschlags...
Zur Abstimmung wird es wohl nicht mehr kommen, denn im Januar 2014 lag die Baubewilligung vor, es gab keine Rekurse mehr, nun hatte das Projekt grünes Licht.
Allerdings warf die Frage der Finanzierung weiterhin hohe Wellen, die darin gipfelten, dass Stadtrat Martin Waser (SP) und seine Frau mit ihrem Privatvermögen einsprangen, um fehlende CHF120'000 abzudecken. Der Betrag hat sich dann dank Spenden an den von Waser daraufhin gegründeten Förderverein rasch auf CHF80'000 verringert; der aktuelle Stand der Finanzierung ist mir nicht bekannt. Wieviel auch immer Stadtrat Waser letztlich aus eigener Tasche beisteuern muss; ein solches Engagement ist auf jeden Fall bemerkenswert.
Dank der finanziellen Unterstützung von weiteren Sponsoren und privaten Spendern konnte der Kreditrahmen der Stadt eingehalten werden. Der Hafenkran kostet die Stadt Zürich nicht mehr als die bewilligten CHF600'000 - für die Gegner immer noch viel zu viel.

Und so ist auch das meist aufgeführte Argument der Gegner die "Verschwendung von Steuergeldern" (NB: Martin Waser hat vorgerechnet, dass das Kunstprojekt «Zürich Transit Maritim» jeden Zürcher, jede Zürcherin gerade mal einen Franken fünfzig gekostet habe.). Dazu wird kritisiert, dass ein rostiger Gebrauchsgegenstand noch lange keine Kunst sei. Hafenkräne gehörten dorthin, wo sie auch gebraucht werden...

Dabei kann Rost doch so schön sein!





spannend auch das Zusammenspiel von alt und neu.
Für die sichere Befestigung des Krans
mussten neue Schrauben und Muttern verwendet werden.

Eins ist sicher: der Kran regt zu Diskussionen an, er fordert heraus, er zwingt zur Auseinandersetzung - und das ist doch ein wichtiger Bestandteil von zeitgenössischer Kunst.

Er verändert sicher auch unsere Sehgewohnheiten und präsentiert die Limmatstadt und ihre Wahrzeichen in einer völlig neuen Perspektive...


Wie klein die Türme des Fraumünsters
und der Peterskirche plötzlich erscheinen!






... und  ist möglicherweise bereits zum meistfotografierten Objekt in Zürich avanciert...
Man kann aber auch herrlich mit dem Fotoapparat "spielen"








Solche Fotos eignen sich übrigens bestens als Ausgangslage für einen Quiltentwurf

- Transparentpapier über das Foto legen
- Die wichtigsten Linien nachzeichnen
- und sich dabei auch die Freiheit gewähren, Linien zu verändern, Formen zu verschieben oder ganz wegzulassen.

Das kann dann in etwa so aussehen

Die helleren (Bleistift) Linien würde ich eventuell noch weglassen.
Würde doch perfekt passen zu einem Wettbewerbsthema
"Science Fiction" oder "Fremde Welten".

Der Kran führt also zu spannenden Diskussionen, regt zum Denken an

ermöglicht einen neuen Blick auf Altbekanntes, lässt einem eine ungewohnte Ästhetik entdecken und ist erst noch inspirierend! Für mich ist also die Antwort auf die Frage "Kunst oder Humbug" eindeutig... Aber was meinen Sie?

PS:
1) Wenn man "Zürich Hafenkran" googelt, findet man unzählige Seiten und Informationen zum Thema. Drei, die ich besonders interessant bzw. informativ fand:

2) Am Wochenende vom 4. bis 6. Juli findet ein Hafenfest statt.

3 Kommentare:

  1. Das ist aber schwer, von so weit weg etwas dazu zu sagen. Als ich den Post gelesen habe, dachte ich, ach nein, das muss doch nicht sein. Aber nachdem ich ein bißchen über die Hintergründe und Geschichte gelesen habe, finde ich das Projekt ganz spannend. Es regt zum Nachdenken an und das ist ja schon eine ganze Menge. Und ich mag eben auch Rost und alte Bauwerke. Trotzdem will ich mich nicht festlegen, denn ich würde es eben doch lieber erst betrachten, ehe ich sicher bin, ob es Kunst oder Humbug ist. Aber Danke für den tollen Beitrag, wieder Neues kennengelernt. Liebe Grüße Anette

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  2. Ich habe den Kran zwar noch nicht vor Ort gesehen aber was ich darueber erfahren habe begeistert mich und die bisher gesehenen Bilder gefallen mir sehr: Die Veraenderung der Proportionen der Stadt, die Aestethik des Krans, die Aehnlichkeit mit einem stolzen, riesigen Vogel, die Kraft und die Transparenz, die er ausstrahlt. Ich finde, er ist genial plaziert und sieht fantastisch aus. Er ueberrascht durch seine Fremdheit und gleichzeitig scheint er ganz zuhause zu sein. Ich bin froh um dieses temporaere Geschenk an meine Sinne und dankbar.

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  3. Liebe Anette, liebe Pasqualina
    Danke für eure Kommentare. Dass der Kran zum Nachdenken anregt und zum Diskutieren einlädt, erlebe ich jedes Mal wenn ich mit der Strassenbahn daran vorbeifahre: es gibt immer Mitfahrer, die ein Gespräch über den Kran anfangen und angeregt darüber debatieren, ob das nun Kunst sein oder nicht... Und das, ist, wie Anette richtig sagt,schon ein ganze Menge.
    Der Kran ist aber wirklich nicht "nur" ein Kunstwerk, das Diskussionen provoziert, er hat auch eine ganz eigene Wirkung, Symbolik und Aesthetik, wie sie von Pasqualina perfekt beschrieben wurde.
    Nebst all den kritischen Voten, hört man deshalb auch immer wieder Stimmen, die fordern, der Kran sollte doch für immer in Zürich bleiben.
    Ich hätte nichts dagegen und bin gespannt, wie's weitergeht.
    Liebe Grüsse
    Cécile

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