Von Yvonne Habbe
Vor beinahe fünfzehn
Jahren machte ich eine Reise in die wirklich grossen Wälder, die Taiga des
südlichen Sibiriens. Während eines ganzen Sommermonats besuchten wir Dörfer und
Menschen in diesen weiten Landschaften. Mein tiefstes Interesse galt damals wie
auch jetzt dem traditionellen Handwerk. Wir kamen in Kontakt mit vielen
talentierten Künstlern, die mit verschiedenen Materialien arbeiteten. Ich
unternahm diese Reise bevor ich die Kunst des Filzens erlernt hatte, mein heutiger Beruf. Ich erinnere mich jedoch, dass wir in einem abgelegenen Dorf in
der Taiga einen Mann kennenlernten, der seine eigene Filzmaschine gebaut hatte
um Filzstiefel herzustellen. Ich erinnere mich an dieses Detail als eines von
vielen wunderbaren Dingen, auf die wir stiessen.
Während wir einige
Tage damit verbrachten, in den Sayan Mountains in der Republik Tuva zu wandern,
trafen wir auf Menschen, die als Nomaden in Yurten lebten, und sie luden uns in
ihre Zelte ein.
Die offene Türe lädt ein zum Eintreten, sich setzen und Tee trinken |
Ich hatte Gelegenheit,
in einer Yurte zu übernachten und erfuhr, wie es ist, in einem runden Raum mit
Filzwänden einzuschlafen, Wände aus Filz, einem Material, das jedes Geräusch
von aussen dämpft. Es war ein Gefühl wie am Anfang des Lebens, im Mutterleib. Es
war ein sicherer Ort, ein unberührter Raum. Ich glaube gerne, dass diese
Erfahrung es war, die den Samen pflanzte für meine spätere Begeisterung für
Wolle und Filz.
Ich wusste nicht, dass
die Gegend in Sibirien, durch welche wir reisten, historisch besonders
interessant ist vom Gesichtspunkt eines Filzers, Westlich der Gegend um Berg
Sayan befinden sich die Altai Mountains und Pazyryk, der Ort, wo in der ersten
Hälfte des letzten Jahrhunderts scythische
Gräber aus der Zeit von etwa 400 vor Christus entdeckt wurden. Dort
wurden die am Besten erhaltenen Filzobjekte aus jener Zeit gefunden, Diese
Objekte sind jetzt im State Hermitage Museum in St.Petersburg ausgestellt.
Seit zehn Jahren
verdiene ich meinen Lebensunterhalt als Filzlehrerin und von meinen eigenen
Kunstwerken, die ich ausstelle. Oft sind mir dabei Fotos der Funde in Pazyryk begegnet
und ebenso oft habe ich gewünscht, sie in Wirklichkeit sehen zu können. Glückliche
Umstände machten im Februar 2015 eine Reise nach St. Petersburg möglich. Wir
reisten per Schiff von Gotland nach Stockholm and Helsinki und dann mit dem Zug
über die russische Grenze nach St. Petersburg. Die Woche in St. Petersburg war
erfüllt von interessanten und fruchtbaren Zusammenkünften mit russischen
Filzern. Und der Höhepunkt war natürlich, die herrschaftlichen Hallen des State
Hermitage Museums zu betreten, eines der grössten Museen der Welt. Trotz eines
Lageplans des Palastes hatten wir Mühe, die Funde von Pazyryk ohne die Hilfe
des Museumspersonals zu finden. Als ich dann endlich den Raum betrat, wo die
Objekte ausgestellt sind, war ich so bewegt, dass ich ihn kaum mehr verlassen
konnte. Die Funde aus dem Grab genannt Barrow No. 5 stechen besonders hervor
und die Objekte daraus füllen einen ganzen Raum.
Neben dem Toten
befindet sich darin eine ganze Pferdekutsche. Unter den Objekten hat es
Teppiche, Pferdedecken, Kleider, Masken, Kopfbedeckungen, Ornamente usw.
Einer der
eindrücklichsten Funde ist ein Filzteppich von der Grösse 640x450 cm mit
gemusterten Applikationen, bestehend aus eine wiederholten Darstellung von zwei
Figuren, einer auf einem Pferd, der anderen auf einem Thron.
Wenn Sie neugierig
geworden sind auf die Ausstellung im State Hermitage Museum in St. Petersburg, können
Sie den Museumskatalog auf der Website des Museums konsultieren, wo ein kleiner
Teil der Objekte zu sehen ist. Der folgende Link führt zu einigen Filzobjekten
von Pazyryk:
https://www.hermitagemuseum.org/wps/portal/hermitage/searchresults?lng=sv&p0=relevance!desc&p1=pazyryk&p2=&p3=&p4=&p5=felt&p6=&p7=&p8=&p9=&p10=&p11=&p12=ad&p13=&p14=ad&p15=1
Ich denke oft, dass durchs
Filzen das Gefühl in meinen Fingerspitzen weiterentwickelt wurde. Das geht
manchmal so weit, dass es mir bewusst wird, wie unterschiedlich sich die Materialien und Oberflächen im täglichen
Leben mittels meiner Fingerspitzen anfühlen. Im State Hermitage Museum war ich
plötzlich so nahe an den Objekten, dass ich trotz der trennenden Glaswand des
Schaukastens das Material auf meiner Haut und meinen Fingerspitzen
visualisieren konnte und mich auf diese Weise
den Menschen, welche diese Objekte vor beinahe 2500 Jahren geschaffen
hatten, nahe fühlte. Die richtige Wahl von Material und Technik war damals ganz
offensichtlich von genauso grösster Wichtigkeit für talentierte Künstler wie
sie es jetzt ist.
Das Objekt, das mich
am meisten bewegte, ist eine Filzjacke aus einem der Gräber. Der Zahn der Zeit
hat die Jacke sehr zerbrechlich gemacht, und es
ist schwierig, sie zu konservieren. Trotzdem ist es einfach, sich die
Person vorzustellen, die das Gewand getragen hat oder noch besser, die Person,
welche die Wolle gesammelt, sie gefilzt, daraus eine Jacke hergestellt und sie
schliesslich zum ersten Mal anprobiert hat.
Unter den
Filzgegenständen aus Pazyryk befinden sich sowohl flache, gewobene Teppiche mit
Mustern als auch skulpturähnliche Objekte wie Masken und dekorative Schwäne,
zusammengenäht aus gefilztem Material. Die Funde zeigen, dass die Menschen
bereits vor 2500 Jahren die Vorteile und Möglichkeiten, welche Wolle und das
Filzen als Technik bieten, diese sahen und zu nutzen wussten.
Über die Jahre hinweg
entdecken wir wieder, was vergessen gegangen ist und entwickeln weiter, was wir
lernen. Dank der Erinnerung an die Nacht in der Yurte in der sibirischen
Einsamkeit liess ich mich später leicht furs Filzen begeistern, als ich mit der
Technik in Kontakt kam. Ich lernte sie von Grund auf und erkundete dann von mir
aus Fasern und Materialien, kreierte meine persönliche künstlerische
Ausdrucksweise. Ich arbeite am Liebsten mit Bildern und Skulpturen, aber
gelegentlich auch mit Kleidung und anderen Gebrauchsgegenständen.
Sculpture ”The seed where it all began” 2005 |
Ich denke gerne zurück
an die Nacht in der Yurte, die mich veranlasste, ein paar Jahre später Wolle
und Filztechnik für mein Lebenswerk zu wählen, die keimende Saat, die durch die
richtigen Umstände zum Leben erweckt wurde.
Skulptures "Habbeseeds" 2011 |
Objekts ”Longbags”, 2013
|
Picture ”Mending
life”, 2014
|
Picture ”Greengrowing
plans - felt and landscape; vegetable boxes”, 2015
|
Ich möchte noch von
einer anderen Erinnerung von Sibirien erzählen. Sie handelt vom Yenisei River,
wo wir an einem heissen Tag durch die Wälder streiften. Plötzlich war der Boden
unter den Bäumen vollkommen bedeckt von blühenden wilden Pfingstrosen. Ich
pflückte einige der reifen Samen und bewahrte sie sorgsam in meiner Tasche auf.
Als ich nach Hause kam, pflanzte ich diese Samen und sie
begannen zu wachsen.
Endlich, nachdem ich
13 Jahre darauf gewartet hatte, konnte ich die Pfingstrosen blühen sehen!
Yvonne Habbe lebt auf Gotland, Schweden. Ich lernte sie im Ramen meiner eigenen Kurstätigkeit kennen. Sie gewährte mir grosszügige Gastfreundschaft, führte mich auf der Insel herum und ging mit mir auf Fossilien Suche.
Sie kommt in diesem Herbst in die Schweiz und gibt zwei Kurse im Kurszentrum Ballenberg. Darauf freue ich mich sehr.
Kurs 1 Montag 28.9. - Mittwoch 30.9. "Samenschoten"
Kurs 2 Freitag 2.10. - Sonntag 4.10. "Textile Bilder" (ausgebucht)
Ursula Suter
Herzlichen Dank für diese schöne Geschichte und den interessanten Lebenslauf. Erst im nachhinein scheinen wir festzustellen, was uns auf den einen oder anderen Pfad gebracht hat. Im Erleben sind es wohl noch zuviel Eindrücke, um sie so genau sortieren zu könne. Eine tolle Künstlerin mit ebenso ausdrucksstarken Objekten. Filzen muss etwas wirklich Besonderes sein. Herzliche Grüße Anette
AntwortenLöschenThanks for your comment!
LöschenYes, afterward a winding path can look very straight...