Von Grietje van der Veen
Wie Gabi Mett schon erzählte, besuchten wir vor einigen Wochen gemeinsam die ETN (European Textile Network)-Konferenz in Leiden (NL). U.a. nahmen wir an einem Ausflug zum Museum Rijswijk teil, wo zurzeit die internationeleTextielbiennale 2015 gezeigt wird. Das Museum befindet sich in einem historischen Gebäude. dem der zu seiner Zeit berühmte, aber heute in Vergessenheit geratene Dichter Hendrik Tollens wohnte, weshalb das Gebäude heute noch „Tollenhaus“ genannt wird. Über sein Arbeitszimmer später mehr.
Das alte Gebäude wurde 1994 zuerst um einen modernen Eingang aus Glas erweitert und 2011 um mehrere Säle für kurzfristige Ausstellungen. 2000 startete das Museum eine Papierbiennale, die von 2009 an alternierend mit einer Textilbiennale abgehalten wird. Seitdem ist das Museum in dieser Hinsicht international tonangebend. Hier finden Sie den Link zum Museum.
In der Ausstellung sucht man vergebens nach Quilts, wie sie in Quiltwettbewerben definiert und gefordert werden, einschliesslich die Heidelberger Triennale. Hier gibt es keine Vorgaben und die Technik spielt eine untergeordnete Rolle, sondern es gilt Wagnis und Experiment mit dem Medium Textil.
In seinem Vorwort zum Katalog stellt der Kulturkritiker Chris Reinewald in der Ausstellung ein gemeinsames Kriterium der ausgestellten Werke fest: Das Erzählen von Geschichten. „Geschichten „verweben sich“, „entwirren sich“, wir lassen „Maschen fallen“, „nehmen den Draht wieder auf“, verweben etwas zu einem „festen Muster“ mit einem „roten Faden“. Die Sprache reflektiert viele Aspekte der textilen Arbeitsprozesse.
Untenstehend stelle ich einige der ausstellenden Künstler_innen vor. Ich folge dabei teilweise den Ausführungen vom Kunsthistoriker Frank van der Ploeg im zweisprachigen Katalog (niederländisch und englisch). Direkte Zitate erscheinen in Anführungszeichen. Ein Teil der Bilder sind von mir. Einige habe ich aus dem Katalog. Diese sind jeweils mit einem Sternchen markiert. Am Ende jeder Vorstellung finden Sie die Website-Adresse der Künstlerin oder des Künstlers, alle lohnend anzuschauen.
Stilled - Installation von Caroline Bartlerr * |
Detail mit Porzellanscheibe * |
Monica Bohlmann aus Deutschland ist in der Ausstellung mit dreidimensionalen Büsten vertreten – ihre „Fadenfrauen“. Über Draht skulptiert sie stickend und überstickend weibliche Gesichter. Die Lippen und Augen entstehen aus Fotomaterial. Die Kleidung und Kopfbedeckung sind ganz unterschiedlich. Jede Frau hat ihr eigene geheimnisvolle Geschichte.
Monica Bohlmann, Anna |
Die Botschaft von Ying Chew: Momento Mori. Ihre beeindruckende (noch) kleine Serie von gestickten Portraits basiert auf Fotos aus den Anfängen der Fotografie von längst vergessenen Frauen. Die Serie „Unindentified Women“ übersetzt die Fotos in Petit-Point-Stickereien auf altes von Kaffeeflecken verschmutztes Leinen. Die Stickerei gibt dem Bild das spezifische verwischte Aussehen einer alten Daguerreotype Fotografie.
Ying Chew, Unidentified Woman I |
Die Finnin Raija Jokinen kreiert transparente menschliche Figuren, indem sie Flachsfasern mithilfe von wasserlöslicher Folie lose zusammennäht. In der Ausarbeitung der Figuren konzentriert sich die Künstlerin auf einige wenige Organe, Gliedmassen oder Strukturen wie Herzkreislauf, Haut, Arme. Die Formen wirken sehr fragil und verletzbar.
Raija Jokinen, Creating Skin, 88 x 56 cm |
Der aus den USA stammenden Katie Lewis genügen wenige Materialien, aus denen faszinierende abstrakte Gebilde entstehen: Stecknadeln mit weissen Köpfen, Garn und Bleistift. Um die in die Wand gesteckten Nadeln wickelt sie das Garn nach einem für den Betrachter undurchschaubaren Plan. Die Fäden klumpen an manchen Stellen geradezu zusammen, an anderen erscheinen sie leicht und filigran. Dahinter steckt gemäss Lewis der menschliche Körper. „Oder besser gesagt, die scheinbare Objektivität ‚wissenschaftlicher‘ Übersetzungen dieses Körpers in abstrakte Muster“. Wer Katie Lewis bei ihrer Arbeit zuschauen möchte, findet auf der Website des Museums einen kurzen Video film.
Katie Lewis 201/1206 Days, 2012 190 x 137 x 3,5 cm |
Detail |
Ruben Marroquin, ein Amerikaner mit Wurzeln in Guatemala und Venezuela, ist ein Verpackungskünstler. Marroquin begann seine Laufbahn mit Weben, Sticken und Malen. Erst 2013 entstand das erste seiner Wickel- und Knüpfgebilde. Nach der Herstellung einer unterliegenden Konstruktion aus Bambus und Draht wickelt und knüpft der Künstler völlig spontan und improvisierend seine Fäden, trotzdem nie ganz ohne Plan.
Ruben Marroquin, Titel unbekannt |
Als der Vater des Amerikaners Derick Melander starb, bat dieser seine Mutter, ihm die Kleider des geliebten Vaters zu überlassen. Er formte aus dessen Kleidern und denen anderer Verwandten eine Skulptur als Hommage an seinen Vater, dessen Energie und Einfluss so intensiv auf seine Familie ausgestrahlt hatte.
Melander hat viele Skulpturen – Säulen, Mauern, Tippis - aus getragener Kleidung gemacht. Getragene Kleider tragen die Spuren des Besitzers: Flecken, Risse, abgewetzte Stellen, die eigentlich allgemein sind. Deshalb spricht Melander von einem „Kollektivporträt“. Um ein solches handelt es sich bei der spannenden Skulptur in Rijswijk, die er im Arbeitszimmer des Dichters Tollen errichtete. Das Museum startete einen Aufruf im Internet, an zwei festgesetzten Tagen getragene, aber saubere Kleidung bei Museum vorbeizubringen. Als Belohnung erhielten die Spender_innen eine Reduktion auf dem Eintrittspreis. Ca. 1000 kg getragene Kleidung und Wäsche wurden gestiftet. Nachdem sie sorgfältig gefaltet wurden, stapelte der Künstler sie zu einem Kubus, wobei er die Möbel und Bücher Tollens einarbeitete, die teilweise aus der Installation herausragen. Ein temporäres Kunstwerk, das nach der Ausstellung wieder abgebrochen wird. Die Textilien gehen dann den caritativen Sammler Sympany.
Wer sehen möchte, wie der Künstler an dieser Installation arbeitete, kann dies tun auf der Website des Museums, wo ein kurzer Videofilm, teilweise in Zeitraffer, gezeigt wird.
Deerick Melander, gestapelte Textilien * |
Skizze für die Skupltur in Rijswijk * |
Die Werke der Niederländerin Henrique van Putten haben mich sehr berührt. Ihrer Ansicht nach ist der Mensch „ein beschränktes Wesen und wird vor allem definiert durch seine Unvollkommenheiten“. In ihren Skulpturen zeigt sie die verschiedenen Formen der menschlichen Mängel: „Angst vor einander, vor der Unmöglichkeit zusammen zu sein, vor Einsamkeit und Tod“. Interessant ist die Spannung zwischen den weichen kuscheligen Tieren und den entmutigenden Aussagen der teilweise ausgemergelten Kreaturen, die sich in unausweichlichen Situationen zu befinden scheinen. „Sie (van Putten) wählt bewusst sanfte Wesen hergestellt aus weichem Material, um dem denkenden Menschen einen harten Spiegel vor zu halten“ (Frank van der Ploeg).
Henrique van Putten, houtlander , 250 x 250 x 230 cm |
Kari Haug, 4. Klasse, 107 x 500 cm * |
Hier geht es zur Website von Kari Steihaug
Detail * |
Caitlin McCormack, Spirit Ditch, 52 x 52 x 5 cm * |
Hier geht es zur Website von Caitlin McCormack
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* Bilder dem Katalog entnommen