von Grietje van der Veen (Text) und
Bea Bernasconi (Bilder)
Dieser Beitrag kommt zu spät, um Kunstliebende in die Bahnhofshalle von Zürich zu locken, damit sie Ernesto Netos "Gaia Mother Tree" bewundern und begehen können. Aber ich vermute, die halbe Schweiz hat die Installation ohnehin schon gesehen.
Ernesto Neto ist ein brasilianischer Künstler, der fest in der Tradition seiner Vorfahren verwurzelt ist. Das hat mich immer fasziniert: Anknüpfen an die Kreativität der Ahnen. Nichts entsteht aus dem Nichts. Seine Werke sind als Gesamtkunstwerke zu betrachten. Alle Sinne werden aktiviert, vor allem Sehen, Riechen, Fühlen. Man darf in die Installationen hineingehen und die Oberflächen berühren, Kiloweise gemahlene Gewürze verbreiten einen betörenden Duft.
Auf Bitten der Fondation Beyeler in Riehen entwarf Neto eine Baumskulptur, die er nach der griechischen Göttin Gaia benannte, die in der Mythologie die Personifizierung der Mutter Erde darstellt.
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Mit gemahlenen Gewürzen gefüllte Behälter |
Netos Installationen sind offen, durchsichtig und luftig. Von aussen sieht man vage die Personen, die sich innerhalb der Skulptur befiinden. Die Farben deren Kleidung vermischen sich mit denen der Installation und geben immer wieder ein anderes Bild ab.
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Mit Erde gefüllte Säcke als Gegengewicht. Im Hintergrund der Eingang |
Zum Technischen:
Der Grundstoff besteht aus Baumwolle. Gemäss der Co-Kuratorin von der Fondation Beyeler waren dies 10222 Laufmeter. Diese wurden in 3 cm breiten Streifen geschnitten. Drei Monate lang wurden diese Streifen von 27 HelferInnen geschnitten, verschieden eingefärbt, zusammengefügt und zu Einzelelementen fingergehäkelt. Diese Elemente wurden dann nach Europa verschifft, mit Brandschutzmittel behandelt und nach dem Trocknen zusammengehäkelt.
Der Aufbau:
Die Installation kommt völlig ohne Nägel und Schrauben aus. Mit Erde gefüllte Säcke (insgesamt 800 kg) halten die Konstruktion am Boden fest. Behälter, gefüllt mit gemahlenen Gewürzen (insgesamt 600 kg) hängen von der Decke und stabilisieren das Ganze.
Kulturhistorisch ist der Baum ein Symbol für Kraft und Langlebigkeit. Von jeher stehen Bäume für den ewigen Kreislauf des Lebens, für Unsterblichkeit. Bäume sind die höchsten, grössten und ältesten Lebewesen der Welt. Der Lebensbaum stellt den Inbegriff all dessen dar, was Leben bedeutet. Nach jedem Winter ergrünen die Bäume aufs Neue. Ein ewiger Lebenszyklus.
Für Neto steht der Baum für Weisheit, für Spiritualität. Der Wald ist ein Ort zum Teilen. Er fühlt sich zuhause im Amazonasgebiet bei den indigenen Völkern, die vom Urwald und im Einklang mit der Natur leben, Es gibt kein Mein und Dein, sondern sie besitzen und tun alles gemeinsam. Die Institution Familie wird beschützt.
Gaia ist die Kraft des Lebens, der Erde. Sie bietet einen Ort zum Teilen. Hier kann man atmen, in sich gehen, meditieren, sich selber fühlen, alle negativen Gedanken los werden und sich selber so heilen. Für Neto ist die Natur unsere Mutter, die für alles sorgt.
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Der Eingang zur Skulptur in Form eines Schlangenkopfes. |
Gaia Mother Tree ist begehbar. Die Besucher sind eingeladen, sich im
Inneren aufzuhalten, sich mit Gleichgesinnten zu unterhalten oder zu
meditieren. Wie man in dem Gewusel meditieren kann, ist mir ein Rätsel. Aber auf jeden Fall kann man ein Moment entschleunigen. Im Vorraum werden die Schuhe ausgezogen, wie in einer
Moschee.
Der Eingang ist - im Gegensatz zum Baum - in Weiss gehalten und stellt
einen Schlangenkopf dar. Ein Hinweis auf den Sündenfall von Adam und Eva,
die vom Baum der Erkenntnis genascht haben und seitdem dafür
verantwortlich gemacht werden, dass wir auf ewig in Sünde leben
(müssen). Für meinen Geschmack wird hier ein bisschen zuviel Spiritualität bemüht.
Fakten:
Der Baum produziert Sauerstoff und bindet Kohlenstoff. Wälder sind die Lungen der Erde. Vor allem das Amazonasgebiet trägt wesentlich zu der Gesundheit des globalen Klimasystems bei.
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Ein spannender Wirrwarr von Bändern |
Die Humusschicht im Regenwald beträgt teilweise lediglich wenige Millimeter. Darunter befindet sich eine unfruchtbare Sand- oder Lehmschicht. Alle Nährstoffe sind hier - im Gegensatz zu anderen Wäldern - nur in den Pflanzen selbst gespeichert. Somit stirbt der Regenwald für immer, sobald er auf größeren Flächen abgeholzt wird: Der Boden hat keine Reserven, aus denen er schöpfen könnte, um neue Vegetation, entstehen zu lassen und sich zu erholen.
WWF schätzt dass über ein Viertel des Amazongebietes bis 2030 abgeholzt sein wird. Brazilien ist für die Hälfte dieser Abholzung verantwortlich. Der Rest geht aufs Konto der Nachbarstaaten Peru und Bolivien.
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Dieses Foto zeigt den ganzen Aufbau deutlich |
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Die Baumkrone (Gaias Mütze?) |
Ich persönlich sehe den Baum zwar auch als Ort der Entschleunigung, wo man zu sich kommen kann. Die mich kennen, wissen, dass ein Grossteil meiner Werke den Baum als Thema haben, neuerdngs mehr und mehr unter dem Aspekt Umweltschutz. Das Thema Abholzung fehlt in Netos U-Tubefilmen über die Natur und Gaia Mother Tree völlig. Er, der findet, die brasilianische Kultur sei der europäischen weit voraus, hat keine Worte über die Abholzung des Amazonasgebietes, einen Umstand gegen den die brasilianische Regierung herzlichst wenig tut.
In einem Interview über seine enge Verbindung zu den indigenen Völkern im Amazonasgebiet wird eine mögliche Zerstörung deren Lebensbedingungen nicht mal ansatzweise erwähnt.
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Kissen im Innern, auf denen man sitzen oder liegen kann |
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Mein Lieblingsfoto, siehe acu Wordless Wednesday. |
Ich habe den Eindruck, dass Neto immer mehr ins Spirituelle abdriftet. Bis zu Gaia Mother Tree habe ich ihn für seine riesigen skulpturale Landschaften bewundert. Begehbare Tunnel aus Stoff, versteckte Räumlichkeiten und Matrazen, gefüllt mit Styropor. Er sagte einst: "Ich umwickele Luft und verwandle die Atmosphäre in etwas Physisches". So wahr! Die neue Installation im Museum of Contemporary Art in Chacago, bestehend aus einer Liege im untersten Geschoss, die mittels eines gehäkelten Netzes mit dem obersten Stockwerk verbunden ist, hat mir sehr gefallen. Wenn sich jemand unten auf der Liege bewegt, setzt sich die Bewegung bis nach oben fort. Ich dachte, dies sei eine politische Metapher, die zeigt, dass Bewegungen von unten nach oben durchaus erfolgreich sein können. War wohl nicht so gemeint.
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Kissen im Inneren, auf denen man sitzen oder liegen kann |
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Die Installation im unteren Stockwerk |
Einige frühere Werke von Ernesto, aus dem Buch: FIBER SCULPTURE 1960 - PRESENT
2014, The Intitute of Contemporary Art/Boston and Prestel Verlag AG, Munich, London, New York
ISBN 978-3-7913-5382-1
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SoundWay, 2012, 292 x 681 - 89 cm |
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The Island Bird, 2012, 427 x 960 x 655 cm |
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SoundWay, 2012, Detail |
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The Sun Lits Life, Let the Son, detail 2012 |
Hier noch einige Links zu YouTube Filme mit Interviews und Statements von Ernesto Neto: (die meisten sind auf Englisch)
https://www.youtube.com/watch?v=qnXmGkoqEEM&t=21s
Beyeler info (auf Deutsch und Englisch):
https://www.youtube.com/watch?v=Hbt9Kc-J2PA
Neto bei den Indigenen:
Ernesto Neto and the Huni Kuin ~ Aru Kuxipa | Sacred Secret - YouTube
https://www.youtube.com/watch?v=M4wr5ktQhds
https://www.youtube.com/watch?v=rHy6luikM-U
https://www.youtube.com/watch?v=qnXmGkoqEEM https://www.youtube.com/watch?v=v7_7vI3dLbE